Fachinformationen: Prof. Dr. Rudolf Egg, Kriminologische Zentralstelle, Wiesbaden, Mitglied im Fachbeirat der HumanProtect
Die Entführung und Ermordung der Ehefrau eines Bankdirektors im Mai dieses Jahres erzeugte große Betroffenheit und führte bei uns zu verschiedenen Beratungsanfragen zu diesem Thema. Im Bankenbereich wurde auch die Frage laut: Was sind das für Täter und wie sollte man sich am besten verhalten, falls man selber betroffen ist? Aus einem Vortrag, den wir gemeinsam mit dem kriminalpsychologischen Experten Prof. Egg hielten, wollen wir Ihnen einige Aspekte dieses Verbrechens in dem aktuellen Newsletter erläutern.
Der Straftatbestand „erpresserischer Menschenraub“ (§ 239a StGB) wurde in Deutschland erst 1936 anlässlich eines Kidnapping-Falls als „Gesetz gegen den erpresserischen Kindesraub“ erlassen. 1971 wurde der Paragraph aktualisiert und das Verbrechen wird wie folgt definiert: „Wer einen Menschen entführt oder sich eines Menschen bemächtigt, um die Sorge des Opfers um sein Wohl oder die Sorge eines Dritten um das Wohl des Opfers zu einer Erpressung (§ 253) auszunutzen …“ wird mit einer Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft“.
Historisch war die Entführung des Lindbergh-Babys der erste spektakuläre Fall von erpresserischem Menschenraub in der Neuzeit, der damals die ganze Welt bewegte: Am 1. März 1932 wurde der Sohn des berühmten Piloten entführt, doch trotz Zahlung eines Lösegeldes wurde das Baby drei Monate später tot aufgefunden. Dass diese Art des Verbrechens vorher wesentlich seltener bis gar nicht vorkam, so dass es auch keinen entsprechenden Niederschlag in der Gesetzgebung fand, hat vermutlich einen praktischen Grund: erst mit der Einführung des Telefons konnten Erpresser schnell und anonym ihre Forderungen übermitteln und über eine Lösegeldübergabe verhandeln.
In Deutschland haben einige Entführungsfälle mit erpresserischem Hintergrund Aufmerksamkeit erregt, beispielsweise in den 70er Jahren die Entführung der Industriellen Theo Albrecht und Richard Oetker, 1987 die Entführung der Schlecker-Kinder oder 1996 die Verschleppung von Jan Philipp Reemtsma. Die genannten Fälle endeten alle nach Tagen der Gefangenschaft mit einer Lösegeldzahlung und der Befreiung der Opfer. Ein tragisches Ende fanden hingegen die Entführungen des Unternehmers Jakub Fiszman im Jahr 1996 sowie des elfjährigen Bankierssohn Jakob von Metzler im Jahr 2002 – die Entführten wurden tot aufgefunden. Eine extreme Belastung für die Betroffenen und ihre Familien stellt ein solches Verbrechen aber in jedem Fall dar.
Alle Fälle ereigneten sich mit einigen Jahren Abstand, so dass der Eindruck entstehen mag, dass der erpresserische Menschenraub extrem selten vorkommt – das ist aber nicht der Fall, wie die Kriminalitätsstatistik zeigt: 2009 wurden immerhin 89 solcher Fälle erfasst. Relativ zu anderen Verbrechen ist diese Zahl natürlich sehr gering, die absolute Zahl überrascht aber dennoch. Die Aufklärungsquote lag 2009 bei 84,3%, also bei 75 von 89 Fällen. Insgesamt wurden dabei 123 Personen Opfer von erpresserischem Menschenraub. Davon waren 30 Opfer in einen Versuch verwickelt, während 93 Personen, also drei Viertel aller, Opfer von vollendeten Fällen wurden. Der Anteil der männlichen Opfer (62,4%) lag über dem Anteil der weiblichen Opfer (37,6%). Der Großteil der Opfer war über 21 Jahre alt (84,9%). In den meisten Fällen kommen die Opfer frei (88%).
Was verrät die Täterstatistik:
Gewaltdelikte im Allgemeinen werden zum größten Teil, in 86% der Fälle, von Männern ausgeübt. Bei erpresserischem Menschenraub sind es 91%. Während der Anteil nicht-deutscher Tatverdächtiger bei allen Gewaltdelikten insgesamt nur 23,5 % ausmacht, ist der Anteil bei erpresserischem Menschenraub mit 55% deutlich höher.
88% aller Tatverdächtigen bei erpresserischem Menschenraub sind polizeilich bekannt, während es bei Gewaltdelikten allgemein „nur“ 68% sind. Die Zahl der Ersttäter ist somit wesentlich geringer. Auch die Altersstruktur sieht etwas anders aus: Dominieren in Bezug auf alle Gewaltdelikte jüngere Tatverdächtigen bis 25 Jahre mit 57% der Taten, sind beim erpresserischen Menschraub mehr ältere Tatverdächtige über 25 Jahre vertreten (60,9%). Als weitere Merkmale sind festzustellen, dass die Täter zum größten Teil ihren Wohnsitz in geographischer Nähe zum Tatort haben und meist nicht aus dem sozialen Nahraum des Opfers kommen – zum größten Teil besteht keine oder nur eine flüchtige oder lose Vorbeziehung zwischen dem Opfer und dem Täter.
Erpresserischer Menschenraub ist ein seltenes und kompliziertes Delikt, das ein hohes Maß an Planung und krimineller Energie voraussetzt. Die Täter sind meist „Berufskriminelle“. Allerdings gibt es auch die „Laien“, die noch schneller durch Störungen des von ihnen geplanten Ablaufs („Tatskripts“) überfordert werden und Kurzschlusshandlungen begehen können.
Das primäre Ziel der Täter ist es, Geld zu erpressen und nicht erkannt zu werden. Der wesentliche Anreiz zu dem Verbrechen liegt darin, dass die Höhe der Beute selbst bestimmt werden kann, was bei anderen Raub- und Eigentumsdelikten nicht der Fall ist. Auf das Opfer selbst haben es Täter meist nicht abgesehen, sondern nur auf das Geld. Gefährlich wird es allerdings, wenn die Täter befürchten müssen, identifiziert zu werden.
Das sofortige Einschalten der Polizei ist in jedem Fall dringend zu empfehlen, auch wenn Täter gewöhnlich verlangen, dies zu unterlassen. Nur polizeiliche Fachkräfte sind trainiert, Verhandlungen zu führen und Übergaben zu organisieren, welches ja die kritischen Phasen bei einer Entführung darstellen. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die Befreiung der Geisel(n) stets Vorrang hat vor der Ergreifung der Täter. Auch ist das Einschalten öffentlicher Stellen wichtig für die Betreuung der befreiten Geiseln und auch der Angehörigen – denn dass ein solches Ereignis eine massive Traumatisierung darstellt, muss nicht erwähnt werden.
Kernelemente von Traumatisierungen, nämlich der völlige Kontrollverlust und die extreme Preisgabe bei völliger Hilflosigkeit, kennzeichnen die Situation beim erpresserischen Menschenraub, und das oft mehrere Wochen lang. Neben massiven dauerhaften Ängsten erleben Betroffene oft einen Wechsel von Hoffnung und Resignation, eine fortwährende Demütigung und Scham. Natürlich stellt auch die sensorische Deprivation in der Isolation eine extreme Belastung dar, die zu Entfremdung und einem Verlust der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit führt und nicht selten von völliger Apathie begleitet wird.
Auch die Beziehung zu den Entführern führt oft zu einer „traumatischen Bindung“. Hier wird häufig vom „Stockholm-Syndrom“ gesprochen, womit gemeint ist, dass Geiseln eine positive emotionale Bindung zu ihren Entführern aufbauen und beginnen, sich mit deren Zielen und Idealen zu identifizieren, sich wünschen, von diesen gemocht zu werden. Dieses Phänomen ergibt sich oft daraus, dass die Betroffenen sich in einer Art „Notgemeinschaft“ mit den Entführern erleben und gleichermaßen hoffen, dass die Außenwelt auf die Forderungen eingeht. Geschieht die Hilfe von außen nicht unkompliziert, so verbündet sie die Wut und die Enttäuschung mit den Tätern, die ja oft für längere Zeit den einzigen sozialen Kontakt darstellen und von deren Willkür sie vollends abhängen. Psychologisch wird bei diesem Phänomen auch von der „Identifikation mit dem Aggressor“ gesprochen, womit in der Psychoanalyse ein Abwehrmechanismus bezeichnet wird. Dieser ermöglicht es, eine an sich unerträgliche Übermacht erträglich zu machen und sich vor einem Zusammenbruch des Selbst zu schützen, indem man sich unbewusst vollends unterwirft.
Ratschläge, wie man sich in Geiselhaft schützen und versuchen kann, seine Psyche zu schützen, müssen in Anbetracht der Schwere der traumatischen Situation oberflächlich bleiben, aber generelle Verhaltensempfehlungen lauten:
• Sich mental auf eine längere Haft einstellen. Versuchen, den massiven Stress zunächst als Zustand zu akzeptieren.
• Kooperationsbereitschaft zeigen. Keine auffälligen Versuche, die Täter zu identifizieren, keine Fluchtversuche mit unsicherem Erfolg unternehmen.
• Eine „innere Kontrolle“ bewahren, z.B. falls möglich, Tagebuch schreiben, Gymnastik und Krafttraining betreiben, lesen, sich selbst einen Tagesablauf verordnen und diesen so gut wie möglich verfolgen. Auch können Gespräche mit einer „imaginären Person“ oder Vorstellungen und Träume von einer Zukunft in Freiheit helfen, das eigene Selbst zu schützen.
• Ein Beziehungsaufbau zu den Tätern und der Weg, sich als fühlendes Individuum darzustellen, können die Täter hemmen, Gewalt anzuwenden.
• „Paradoxe“ Gefühle (Wut auf die Menschen draußen, Zuneigung zu den Tätern, s.o.) reflektieren und akzeptieren. Nicht man selbst ist verrückt, die Situation ist es.