Seit dem 19. Jhd. ging man rein „biomedizinisch“ davon aus, dass Krankheiten durch organische, also anatomische oder physiologische Defekte erklärbar sind. Eine Heilung musste dementsprechend auch auf „physikalischem“ Wege erfolgen; sei es durch Operationen, Medikamente oder sonstige Maßnahmen, die von außen die „Maschine Mensch“ wieder ins Laufen bringen. Der kranke Mensch blieb dabei eher passiv, er war im wahrsten Sinne des Wortes „Patient“ (ein „Erduldender“).
Inzwischen werden „Gesundheit“ und „Krankheit“ längst nicht mehr nur rein „organisch“ verstanden. Vielmehr wird heute auch berücksichtigt, wie wohl sich ein Mensch subjektiv fühlt, wie leistungsfähig er bei der Bewältigung seines Alltags ist oder wie zufrieden er mit den Beziehungen zu den Menschen in seiner Umgebung ist. Schon 1948 definierte die WHO (Weltgesundheitsbehörde) Gesundheit als einen Zustand des vollständigen, körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens (und nicht nur die Abwesenheit von körperlicher Krankheit und Schwäche).
Diese „biopsychosoziale“ Perspektive betrachtet Gesundheit und Krankheit als konträre Pole eines Kontinuums, wobei die Übergänge von dem einen Zustand zum anderen fließend sind. Sowohl für Gesundheit als auch für Krankheit sind stets biologische, psychologische und soziale Faktoren verantwortlich.
Biologische Faktoren sind zum Beispiel die genetische Veranlagung, die körperliche Konstitution, Infekte, Verletzungen, Ernährung oder körperliche Fitness.
Soziale Faktoren sind zum Beispiel im Beziehungsnetz eines Menschen, in der Familie, der Arbeitswelt, in Konflikten und Anforderungen zu sehen.
Psychologische Faktoren umschreiben das Erleben und Verhalten eines Menschen, zum Beispiel Gefühle, Einstellungen, Selbstbild, Ziele, Lernerfahrungen.
Alle drei Faktorengruppen stehen in Wechselwirkung zueinander und beeinflussen sich gegenseitig. Das heißt, für Gesundheit und Krankheit gibt es keinen einfachen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, im Sinne von „wenn x gegeben ist, dann gesund, wenn y gegeben ist, dann krank“. Und das gilt selbstverständlich auch und sogar ganz besonders für psychische Beschwerden und Erkrankungen.
Beispiel Depressionen
Bei einer depressiven Erkrankung können stets mehrere Faktoren als ursächlich angesehen werden. Biologische Faktoren können beispielsweise in einer genetischen Vorbelastung, hormonellen Schwankungen durch körperliche Erkrankungen oder in Mangelzuständen zu sehen sein. Soziale Faktoren können einschneidende Ereignisse wie eine Trennung oder ein Arbeitsplatzverlust oder auch nicht gelöste Konflikte oder Vereinsamung sein. Psychologische Faktoren wären beispielsweise in einem geringen Selbstwertgefühl, in dysfunktionalen Einstellungen wie Perfektionismus oder in mangelnden sozialen Fertigkeiten zu sehen. Auch die Symptome einer Depression finden sich in den verschiedenen Bereichen: z.B. Schlafstörungen, Appetitverlust (biologisch), sozialer Rückzug, Isolation (sozial) und Niedergeschlagenheit oder Interessenverlust (psychologisch).
Auch Frühwarnanzeichen für psychische Belastungen und Erkrankungen müssen „biopsychosozial“ beachtet werden:
- Auf der körperlichen Ebene müssen zum Beispiel anhaltende Schmerzen (Magen, Kopf, Rücken), diffuse Beschwerden (Engegefühl in der Brust, Kloß im Hals, veränderte Atmung, MagenDarmbeschwerden), Schlafstörungen, Infektanfälligkeit, Erschöpfung dringend ernst genommen werden.
- Auf der sozialen Ebene sind Rückzugsverhalten, Isolation, zunehmende Konflikte, Verhaltensänderungen wichtige Warnzeichen.
- Auf der psychischen Ebene sind anhaltende Gereiztheit, depressiv-aggressive Verstimmungen, Ängstlichkeit, Unsicherheit, Fahrigkeit, Nervosität, Antriebslosigkeit, emotionale Erschöpfung/Leere, Konzentrationsstörungen und Interessenverlust deutliche Warnsignale.
Zur eigenen Gesunderhaltung ist es sinnvoll, sich immer wieder einmal selber „bio-psychosozial“ zu hinterfragen:
- Was tue ich für meinen Körper? Wie achte ich beispielsweise auf Ernährung, Bewegung, Schlaf, einem angemessenen Wechsel von An- und Entspannung?
- Was tue ich für meine Beziehungen? Welche tun gut? Nehme ich mir für meine Beziehungen genug Zeit? Wie gehe ich mit Konflikten um?
- Was tue ich für meine Psyche? Sorge ich für mich durch Entspannung, Freizeitgestaltung, Hobbys? Habe ich einen achtsamen Umgang mit meinen Gefühlen, Wünschen, Träume? Was sind meine Ziele und wie verfolge ich sie?
Wenn man also Gesundheit nicht nur in der Abwesenheit von Störungen und Beschwerden sieht, sondern eher in der Fähigkeit, „die eigenen Gesundheitspotenziale auszuschöpfen und auf die Herausforderungen der Umwelt zu reagieren“ (WHO, 1988), bietet sich die Chance, sich nicht nur als „passiv Erduldender“ sondern auch als „aktiv Gestaltender“ zu verstehen.