Kriegsenkel – Wie sich Traumata über die Generationen auswirken können.

Wenn über die Gründe für die aktuelle Zunahme psychischer Störungen diskutiert wird, stehen in erster Linie die Veränderungen in unserer Gesellschaft im Blickpunkt, vor allem in der Arbeitswelt: Aspekte wie die allgegenwärtige Beschleunigung unseres Lebens, Zeitdruck, Technikabhängigkeit und die Globalisierung sind in der Tat Anforderungen, die dem Menschen eine erhebliche Anpassungsleistung abverlangen. Daneben muss in der psychotherapeutischen Arbeit aber nicht nur berücksichtigt werden, welche Anforderungen Menschen aus der Balance bringen, sondern auch, wie sie mit diesen umgehen und hier steht im Mittelpunkt, welche Einstellungen, Werte, Motive etc. sie haben und natürlich auch, welche Kompetenzen sie mitbringen (bzw. an welche es mangelt), damit aus diesen Anforderungen Belastungen werden. Dass dabei die Erfahrungen in der sog. „Herkunftsfamilie“ oft wesentliche Weichen stellen, ist unbestritten und findet auch in allen Therapierichtungen Berücksichtigung. Im Folgenden soll kurz beleuchtet werden, welche Auswirkungen Traumatisierungen, die Menschen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs als Kinder erlitten haben, auf die heute lebende Enkelgeneration der etwa zwischen 1950 und 1975 geborenen Menschen haben können (die Generation „Kriegsenkel“, s. Sabine Bode, 2009).

Man schätzt, dass allein in Deutschland circa 18,5 Millionen Menschen den Zweiten Weltkrieg als Kind miterlebt haben (Geburtsjahrgänge circa 1930 bis 1945). Etwa ein Drittel dieser Kinder hat erhebliche traumatische Erfahrungen durch Bombardierungen, Flucht, Kinderlandverschickungen und unmittelbare Konfrontation mit Gewalt und Tod erlebt. Viele Menschen wurden als Kinder in der Kriegszeit durch schlimme Erfahrungen wie den Verlust eines Elternteils, Hunger, Kälte oder Existenzängste geprägt. Schätzungen gehen davon aus, dass etwa 5% der Kriegskinder schwer traumatisiert wurden. Neben der Konfrontation mit solchen erheblichen Belastungen ist dabei zudem noch zu bedenken, unter welchen Bedingungen diese Kinder erzogen wurden und welche „Werte“ damals als wesentlich erachtet wurden – die NS-Ideologie knüpfte nahtlos an die „schwarze Pädagogik“ früherer Jahrzehnte an und verachtete alles Schwache und Weiche. Die Kinder sollten ja abgehärtet werden und sich bedingungslos dem Führerstaat unterwerfen, was implizierte, dass eigene emotionale Bedürfnisse verleugnet werden sollten.

In den Jahren und Jahrzehnten nach dem Krieg bestand für diese heranwachsende Generation kaum eine Möglichkeit, sich mit dem erheblichen Leid, das sie in ihrer Kindheit erfahren hatte, auseinanderzusetzen. Im Vordergrund standen die Sicherung der Existenz, das Aufräumen und das Wiederaufbauen – das „Funktionieren“ stand im Mittelpunkt. Dabei hat wohl auch sicherlich eine Rolle gespielt, dass die Zugehörigkeit zur Tätergruppe in vielen Fällen dazu führte, dass nicht nur die Frage nach der Schuld der eigenen Familie, sondern auch das persönlich erlebte Leid verschwiegen, verdrängt oder bagatellisiert wurde.

In den letzten Jahren wurde zunehmend beobachtet und beschrieben, wie bei „Kriegskindern“, die mittlerweile im Ruhestand sind, die im Krieg erlebten Traumata plötzlich wieder aufbrechen und Ängste, Schlafstörungen und quälende Erinnerungen verursachen. Die Gründe für dieses späte Wiederaufflammen der Traumata sind darin zu sehen, dass sich zum einen die äußeren Lebensbedingungen verändern, indem das äußere Gerüst des aktiven Arbeitslebens, das Gefordert sein und “Funktionieren-Müssen“ wegfällt. Zum anderen verändert sich auch das „innere Gerüst“: Mit den altersbedingt veränderten neuronalen Strukturen geht ein Abbau der kognitiven Kontrollmechanismen einher. Dieses Phänomen zeigt vor allem sehr deutlich, dass die Zeit allein kriegsbedingte Belastungen und Traumata nicht zwingend „heilen“ kann.

Ein „transgenerationaler“ Blickwinkel richtet sich nun darauf, welche Auswirkungen diese Traumata der Kriegskinder nun wiederum auf deren Kindern, also die sogenannten „Kriegsenkel“ haben.

Traumata und kriegsbedingte Belastungen der Eltern können auf verschiedenen Wegen auf die Kinder übertragen werden. Immer wiederkehrende Schilderung von Kriegserlebnissen ihrer Eltern können von Kindern als verstörende „Geschichte“ oder fragmentarische belastende Bilder und Eindrücke aufgenommen werden (Sekundärtraumatisierung). Aber auch über die Eltern-Kind-Bindung können psychische Belastungen von den Eltern auf die Kinder übertragen werden. Eltern, die selber psychisch eingeschränkt sind, können auf die Signale und Bedürfnisse ihrer Kinder nicht adäquat reagieren. Mit einer in dieser Form unsicheren Bindung an die Eltern erleben die Kinder früh eine tiefgreifende Verunsicherung. Ebenso können Kinder früh lernen, sich um die Eltern zu „sorgen“, also sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, um die Belastung der Eltern so gering wie möglich zu halten (also z. B. „perfekt“ sein, funktionieren, sich anpassen, sich um die Eltern sorgen und kümmern und eigene Interessen und Bedürfnisse hinten anstellen).

In den letzten Jahren konnten Studien bei der Kriegsenkelgeneration erhöhte Werte von Angst, Depressivität und psychosomatischen Beschwerden im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt nachweisen.

Traumatisierungen, die Kinder im Krieg erlebt haben, können sich also auch in der nachfolgenden Generation durch psychische Beschwerden bemerkbar machen.

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