Online-Erschöpfung – Selbstorganisation, Rücksicht und Fingerspitzengefühl sind jetzt mehr denn je gefragt

Als ob nicht schon vor der Pandemie die Terminkalender voll genug gewesen wären, ist im Laufe des letzten Jahres – so zeigt jetzt eine internationale Studie – die Anzahl der Meetings um fast 13 Prozent gestiegen. Und nicht nur das, auch die allgemeine Arbeitszeit hat um durchschnittlich 48,5 Minuten zugenommen (DeFilippis et al., 2020).

Für diejenigen, die im Homeoffice arbeiten dürfen oder müssen (je nach Perspektive) fallen zudem viele automatische Pausen und Puffer weg, die nicht nur den Arbeitstag strukturieren, sondern auch Erholung und Bewegung mit sich bringen: die Fahrt zur Arbeit, der Gang zum Besprechungsraum, das gemeinsame Mittagessen in der Kantine, der kurze Austausch am Kaffeeautomaten, mal schnell zum Büro des Kollegen gehen, um etwas nachzufragen und noch vieles mehr. Das birgt die Gefahr, dass sich von früh morgens bis abends ein Video-Call nahtlos an den anderen reiht, weil wir ja im Homeoffice sitzen und erreichbar sind. Für Pausen ist kaum mehr Zeit, nur mal schnell Kaffee holen und zur Toilette gehen und dann geht es auch schon weiter, gegessen wird oft nebenher. Manchmal bedrückt noch ein schlechtes Gewissen, wenn man mal kurz den Arbeitsplatz verlassen hat und nicht erreichbar war.

Das allein ist von der zeitlichen Dauerbelastung her schon hochgradig erschöpfend. Hinzu kommt noch, dass es für die meisten Menschen auch anstrengender ist, digital zu kommunizieren, als analog im direkten vis-a-vis. Zwar hören wir im virtuellen Raum, was der andere sagt, aber viele non- und paraverbale Inhalte, die uns im direkten Miteinander die Kommunikation erleichtern, die wir in der Regel implizit, also unbewusst, aufnehmen und verarbeiten, fehlen im digitalen Raum oder sind nur teilweise verfügbar. Normalerweise helfen uns Mimik, Gestik, Körperhaltung, Blicke, Sprechgeschwindigkeit und -pausen, die Position der Gesprächspartner im Raum, Feinheiten der Betonung, aber auch Gerüche und Berührungen, die wir automatisch (und damit energiesparend) verarbeiten, Gesagtes zu deuten, zu bewerten und zu verstehen. Fallen diese Kommunikationshilfen weg oder werden sogar durch den digitalen Rahmen verfälscht, so müssen wir – mit mehr Energieaufwand – die Informationen nun bewusst sortieren. Während in analogen Gesprächssituationen die Aufmerksamkeit automatischer gesteuert wird, erfordert dies im Video-Meeting oftmals eine bewusste Willensanstrengung, und das ist deutlich anstrengender. Für viele wird die Kommunikation zudem auch dadurch erschwert, dass man in einem Video-Call nicht nur die anderen anstarren kann, ohne dass diese es merken, sondern man sieht sich auch selbst und weiß, dass andere einen sehen können, vielleicht sogar neugierig studieren, ohne dass man es merkt. Damit entfällt ein Teil der Aufmerksamkeit auf einen selbst und die eigene Wirkung, was zu Hemmungen und weniger authentischen und weniger offenen Verhaltensweisen führen kann.

Kommunikation besteht aus mehr als nur dem ausgesprochenen Wort. Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt, „wobei Letzterer den Ersteren bestimmt“ (Watzlawick et al., 1967). Bei virtueller Kommunikation wird die Sachebene durch verbale Äußerungen ausreichend abgedeckt, aber die Beziehungsebene elementar beschränkt. Damit ist der Interpretationsspielraum, den eine Aussage eröffnet, weitaus vergrößert, was zu vermehrten Irritationen und Missverständnissen darüber führen kann, wie das Gesagte gemeint ist.

Mal davon abgesehen: Kommunikation, die im Schwerpunkt auf der Sachebene abläuft („lassen Sie uns sachlich bleiben“), fühlt sich irgendwie schal an. Haben wir fast nur noch solche Kontakte und Kommunikationen von morgens bis abends, dann sind wir frustriert und erschöpft. Uns fehlen die guten zwischenmenschlichen Begegnungen und die kognitive Verarbeitung wird durch eingeschränkte Informationen erschwert.

Welche Schlüsse sollten wir daraus ziehen?

  • Nonstop-(Video-) Calls von morgens bis abends sind enorm erschöpfend, frustrierend und auch noch unproduktiv: Das Gehirn braucht ausreichende Pausen, um optimal produktiv zu sein. Für eine ausreichende Pausenstruktur zu sorgen, unterstützt Gesundheit, Leistungsfähigkeit und Zufriedenheit. Wenn Sie zudem daran denken, wie viel körperliche Bewegung dadurch wegfällt, dass Sie sich nicht mehr ins Büro begeben, sondern nur ein paar Schritte zu ihrem Arbeitsplatz im Homeoffice gehen, sollte idealerweise in den Pausen für Bewegung gesorgt werden. Aber auch gegenseitige Rücksicht ist gefragt, damit nicht in die noch so kleinste Terminlücke der Kolleg*innen das nächste Meeting eingebucht wird.
  • Als zutiefst soziale Wesen brauchen wir ein Minimum an guten zwischenmenschlichen Begegnungen. Neben Meetings, die hauptsächlich zum Austausch und zur Besprechung von Inhalten und Fakten durchgeführt werden, sollte es auch virtuellen Raum für persönliche Anliegen geben. Es lohnt sich in jeder Hinsicht, persönlich und zeitlich in virtuelle Kontakte zu investieren, bei denen jeder Einzelne auch auf der Beziehungsebene und damit auch ein Stück weit mehr als Mensch sichtbar wird.
  • Gerade bei virtueller Kommunikation sollte sich jeder des Inhalts- und des Beziehungsaspekts einer Nachricht bewusst sein und Aussagen mit Fingerspitzengefühl behandeln. Es kann schnell etwas anderes beim Empfänger ankommen als der Sender gemeint hat. Lieber einmal mehr nachfragen oder die Aussage noch einmal mit anderen Worten umschreiben als Verunsicherung und Irritation über eine Aussage zu riskieren, die zu Missverständnissen, Konflikten und Verschlechterung des Teamklimas führen können.
(F. Schulz von Thun, 1981, Miteinander Reden 1)
  • Und nicht zu vergessen: Manchmal kann es auch sehr hilfreich sein, für sich persönlich eine wohlwollende, anerkennende Bilanz am Ende des Arbeitstages zu ziehen und sich vor Augen zu führen, was man alles geschafft hat. Und dann auch tatsächlich abschalten!
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