Die zwei Gesichter des Narzissmus

In seinem Mythos beschrieb der Dichter Ovid Narziss als schönen jungen Mann, der sich nicht für seine vielen Verehrer:innen interessierte, sondern nur von sich selbst völlig fasziniert war. Auch heute noch wird im Allgemeinen unter Narzissmus Selbstverliebtheit aufgefasst. 

Aus psychologischer Sicht ist Narzissmus ein Zusammenspiel von folgenden Eigenschaften: 

  • Grandioses Selbstbild 
  • Bedürfnis nach Bewunderung und Aufmerksamkeit 
  • Mangel an Empathie 

Auf dieser Grundlage neigen Narzisst:innen zu Dominanz, Selbstüberschätzung und Überempfindlichkeit gegen Kritik. 

Narzissmus ist nicht automatisch eine (Persönlichkeits-) Störung

Jede:r von uns trägt narzisstische Anteile in sich, was auch ausgesprochen hilfreich für einen gesunden Selbstwert sowie für Erfolg und Zielverwirklichung ist: Ein positives, mitunter etwas überhöhtes Selbstbild schützt uns vor Selbstzweifeln, Scham und Frustration und kann im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung wiederum zu selbstwertstärkenden Erfahrungen führen. Auch bei deutlich ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsanteilen reden wir noch nicht von einer Störung: zum Beispiel bei Menschen, die ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit dadurch befriedigen, dass sie sehr großen Wert auf ihr Äußeres oder auf Statussymbole legen oder sehr gerne im Mittelpunkt stehen. Solange kein anderer darunter leidet, ist das völlig in Ordnung. Bis eine Persönlichkeitsstörung im Sinne der gängigen Klassifikationssysteme diagnostiziert werden kann, müssen verschiedene weitere Diagnosekriterien erfüllt sein, auf die wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen werden. 

Grandioser Narzissmus
Wenn wir „landläufig“ von Narzisst:innen sprechen, meinen wir eher Personen, die sehr gerne im Mittelpunkt stehen und eine übermäßig hohe Meinung von sich selbst haben. Um ihr grandioses Selbst aufrechtzuerhalten, streben sie immerwährend nach Überlegenheit gegenüber ihren Mitmenschen. Manches Mal treten sie offen arrogant und abwertend auf, ein anderes Mal können sie andere Menschen mit ihrem Charme um den Finger wickeln. Letztendlich tun sie alles, um ihre Ziele unbedingt durchzusetzen. Das erreichen sie mit Manipulation und Fehler- und Schuldzuweisung an andere. Diese Form wird grandioser Narzissmus (auch offener Narzissmus) genannt. 

Künstler: Ron Barrett 

Verdeckter Narzissmus
Es gibt aber noch eine andere Form, die sich verdeckter Narzissmus nennt (auch vulnerabler Narzissmus genannt). Diese Narzisst:innen wirken eher introvertiert, unsicher und sogar depressiv. Sie präsentieren sich häufig als liebevoll, mitfühlend und sozial engagiert. Im Inneren verfügen sie allerdings über dieselben Größenideen wie die grandiosen Narzisst:innen – aufgrund ihrer großen Unsicherheit tragen sie dies aber nicht so sehr nach außen. Zurück bleibt die Überzeugung, in der eigenen Einzigartigkeit von der Welt verkannt und missachtet zu werden. Besonders im häuslichen bzw. familiären Umfeld zeigt sich dann aber die manipulative Seite der verdeckten Narzisst:innen, die über Abwertung von anderen eine Selbstaufwertung erreichen. Mithilfe von Schuldzuweisungen an andere inszenieren sie sich meist in der Opferrolle und wähnen sich damit frei von jeglicher Verantwortung. Die Manipulationen sind oft subtil und damit nicht so schnell zu merken: Kleine Sticheleien, sarkastische Bemerkungen und verdrehte Tatsachen (Schuldumkehr), die mit solch völliger Überzeugung vorgetragen werden, dass das Gegenüber sich und seinen Geisteszustand zunächst gänzlich selbst in Frage stellt. 

Beiden Arten von Narzissmus gemeinsam ist eine tiefsitzende, enorme Angst vor Kränkung sowie ein schwaches Selbstwertgefühl. Denn auch wenn – vor allem die grandiosen – Narzisst:innen oberflächlich von ihrer eigenen Großartigkeit überzeugt sind, ist dieses Selbstbild überaus fragil und kann durch äußere Bewertungen sehr leicht ins Wanken gebracht werden. Schon bei der kleinsten Kritik reagieren Narzisst:innen extrem empfindlich, fühlen sich angegriffen und werden defensiv. Das verursacht viele Probleme in Beziehungen, auf der Arbeit und in anderen Bereichen des Lebens. Zugespitzt bedeutet das, dass Narzisst:innen sich selbst immer als fehlerfrei sehen – die Fehler liegen stets bei den anderen.  

Wie geht man nun am besten mit Narzisst:innen um, wenn man mit ihnen konfrontiert ist?

Narzissmus als solchen zu erkennen, kann ein erster hilfreicher Schritt sein, um das Verhalten der betreffenden Menschen besser einordnen zu können. Dies gelingt bei grandiosem Narzissmus meist einfacher als bei verdecktem – es lohnt sich, im Hinterkopf zu behalten, dass überhebliche Größenideen nicht immer mit extravaganter Selbstdarstellung einhergehen, sondern auch im Inneren einer äußerlich unsicheren und zurückhaltenden Person schlummern können. Zudem kann es helfen, sich näher mit Strategien wie Schuldumkehr und Tatsachenverdrehung auseinanderzusetzen: Wer hierfür wachsam ist, lässt sich in Konflikten weniger leicht aus dem Konzept bringen. Narzisst:innen weisen ihrem Gegenüber gerne eine unterlegene Rolle zu – ein stabiler eigener Selbstwert ist der Schlüssel, der es ermöglicht, diese Rolle nicht für sich anzunehmen. Als Angehörige:r einer narzisstischen Person kann es sich also lohnen, sich an den eigenen unantastbaren Wert zu erinnern – und sich zu fragen: Was gibt mir ein Gefühl von Stärke, Selbstvertrauen und Individualität? 

Narzissmus ist tief in der Persönlichkeitsstruktur verankert und gilt daher als ziemlich stabile Eigenschaft. Narzisst:innen sind zudem meistens eher ein Problem für ihr Umfeld als für sich selbst. Daher geht man bei den betreffenden Personen häufig von einem geringen Veränderungspotenzial aus. Doch auch Narzisst:innen sehnen sich, wie alle Menschen, nach erfüllenden sozialen Beziehungen. Die ständigen Konflikte bedeuten für manche daher so viel Leidensdruck, dass sie sich verändern wollen. Auf Basis einer solchen Motivation können selbst tiefgreifende Persönlichkeitsstörungen psychotherapeutisch behandelt werden. Vielleicht sogar mit grandiosem Erfolg.   

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