Was die derzeitige Pandemiesituation psychisch so anstrengend macht und auch so viele Konflikte hervorruft, ist unter anderem, dass sie das menschliche Grundbedürfnis nach Kontrolle in starkem Maße belastet. In dieser aktuellen Lage können wir deutlich beobachten, wie unterschiedlich Menschen mit diesem Kontrollverlust umgehen und versuchen, eben diese wieder zu erlangen.
Kontrolle und Sicherheit erfahren zu wollen, ist als existentielles Bedürfnis tief in uns verankert und nicht nur für das Wohlbefinden wichtig, sondern auch wesentlich für unsere Gesundheit. Zahlreiche Studien zeigen: Menschen, die davon überzeugt sind, dass sie Ereignisse in der Welt beeinflussen können, leben länger. Menschen hingegen, die wenig Kontrolle erleben, die glauben, kaum Einfluss zu haben und sich häufig ausgeliefert und hilflos fühlen, leben nicht nur ungesünder und deswegen kürzer, sondern auch unglücklicher.
Ein Mangel an subjektiver Kontrolle wird auch mit der Entstehung verschiedener psychischer Störungen in Verbindung gebracht, nicht zuletzt deshalb, weil jede Bedrohung unserer Kontrollerfahrung, unserer Autonomie, Stress bedeutet – und den mag unser Organismus zwar in Maßen, aber nicht als anhaltenden Zustand. Kein Wunder, dass unser Gehirn fortlaufend dafür sorgt, irgendwie eine Wahrnehmung und ein Gefühl von Kontrolle herzustellen. Wenn wir uns aber mal bewusst darauf konzentrieren, dass wir eigentlich nie 100 Prozent Kontrolle über die Geschehnisse in unserer Umwelt haben, ist es spannend zu betrachten, wie das Gehirn es schafft, uns dieses Gefühl von Kontrolle und Sicherheit zu vermitteln, was ja letztendlich eine Kontroll- und Sicherheitsillusion ist.
Wenn wir Menschen eine gefährliche Situation bewältigt haben – zum Beispiel eine verkehrsreiche Straße zu überqueren -, dann wird das erfolgreiche Verhalten als „gute Lösung“ im Gehirn abgespeichert. Üben wir diese Situation mehrfach und erfolgreich, dann wird unser Verhalten als Muster abgespeichert und braucht zukünftig nur noch ohne großen Energieaufwand (also unbewusst) abgerufen werden. So können wir uns durch den Verkehr bewegen mit einem Gefühl von Kontrolle und Sicherheit. Oder andersherum: Würden wir bei jeder Straßenüberquerung bewusst und in jedem Detail prüfen, was alles passieren kann und wie wir uns davor schützen können, dann wäre unser Gehirn völlig überfordert und wir vor lauter Angst handlungsunfähig.
So können wir uns in einer nie ganz gefahrfreien Umgebung bewegen mit einem guten Gefühl von Kontrolle und Sicherheit.
Weiterhin können wir das Bedürfnis nach Kontrolle und Sicherheit auch dadurch stillen, dass wir uns für eigentlich komplexe Geschehnisse einfache und eindeutige Erklärungen im Sinne eines Ursache-Wirkung-Zusammenhangs herleiten: Weil A gegeben war, folgte B. So werden die Dinge zumindest vorhersehbar. Ich brauche zukünftig ja nur noch A vermeiden oder bekämpfen, dann passiert mir auch B nicht mehr.
In der Arbeit mit traumatisierten Menschen macht man öfter die Erfahrung, dass Betroffene von einem Verbrechen oder einem Unfall unter Schuldgefühlen leiden, weil sie sich selbst die Verantwortung zuschreiben („Ich hätte es wissen müssen, ich hätte etwas tun können“; „wenn ich dieses oder jenes nicht gemacht hätte, dann wäre das nicht passiert). So stellt das Gehirn im Nachhinein das Gefühl einer gewissen Kontrolle und zukünftigen Sicherheit wieder her.
Auch wenn wir das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit ganz existentiell benötigen, müssen wir unsere Verhaltens- wie auch Erklärungsmuster immer wieder mal überprüfen. Denn das, was damals eine gute Lösung war, kann heute nicht mehr aktuell und sogar wenig förderlich sein. Und das, was ich mir als Erklärung hergeleitet habe, kann für die Komplexität der Situation womöglich zu einfach und damit wenig förderlich sein.